Café Stefanie / Corporate Bohème

Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Bohème, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.“ Erich Mühsam

Das historische „Café Stefanie“ in München Schwabing diente als Vorlage für ein Set, in dem der legendäre Treffpunkt der Münchner Bohème aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in einer dreiwöchigen Theater-Performance reinszeniert und wiederbelebt wurde. Der Ort, ein leer stehendendes Haus in Münchens Zentrum, wurde nachts als geheimer Club betrieben und von einem festen Stamm von Performern in historisch recherchierten Rollen bespielt.

Um ins Café eingelassen zu werden, wurde jeder Teilnehmer dieses Experimentes zunächst blind zum Veranstaltungsraum geführt und durchlief dort mehrere Schleusenräume. In diesem Initiationsritus wurde jeder Zuschauer kostümiert und verführt, die Rolle einer Persönlichkeit aus jener Zeit anzunehmen. Die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern, zwischen Party und historischer Recherche, Performance und politischer Diskussion löste sich auf. Es entstand ein Ausnahmezustand, der im konkreten Umgang mit utopischem Material Kunst als Lebensform erlebbar machen sollte. Die historische Vorlage bot dabei nicht nur ein reichhaltiges Material an Versuchen, eine Einheit aus Kunst und Leben Wirklichkeit werden zu lassen, sondern diente uns auch als Projektionsfläche für heutige Sehnsüchte.

In Stuttgart wurde das Set unter dem Namen Corporate Bohème auf einen Theaterraum übertragen. Dies gab der Veranstaltung noch stärker den Charakter eines Experiments. O-Team erfand ein übergeordnetes System, dem die Darsteller ebenso gehorchten, wie ihre Gäste. So wurden die Darsteller teilweise ihrer vermeintlichen Verantwortlichkeit enthoben, was gleichzeitig allen Teilnehmern erlaubte, mehr Freiheit in der Gestaltung des Abends zu erleben.


Café Stefanie: Januar 2015 an einem geheimen Ort in der Münchner Innenstadt

Corporate Bohème: Februar 2015, OST Stuttgart

von und mit Michael Bartels, Antonia Beermann, Frank Deesz, Harry Delgas, Anna Donderer, Folkert Dücker, Ruth Geiersberger, Benno Heisel, Samuel Hof, Dietrich Kuhlbrodt, Leah Lichtwitz, Nina Malotta

Katja Kettner/Tine Elbel (Produktion München) Markus Niessner (Grafik/ Produktion Stuttgart) Kathrin Schäfer (PR/ÖA)

gefördert durch den Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes, die Stadt Stuttgart und den Landesverband Freier Theater Baden-Württemberg e.V.

Presse:

M94,5:
„Superspannend, ungewöhnlich und lustig.“
„Man muss bereit sein, den Alltag draußen zu lassen.“
“Genitalorgien”

Mehr…

Stuttgarter Zeitung, von Ingmar Volkmann, 01. März 2015
[...] Anschließend werde ich in ein parkendes Auto geführt. Aus den Boxen ertönen die Anweisungen für die Nacht. Der nächste Darsteller des Theaterkollektivs klopft an die Scheibe, verbindet mir die Augen und führt mich zum eigentlichen Ort des Geschehens. Sind wir noch im Stuttgarter Osten oder schon kurz vor Kunduz? Die panische Angst, jeden Moment gegen eine Wand zu laufen, überlagert jedes Zeit- und Raumgefühl. Nach zwei Minuten oder 20, das lässt sich später nicht mehr rekonstruieren, steht man in einem Raum und darf die Augenbinde fallen lassen. Jetzt soll man sich für ein Kostüm entscheiden. Nächster Raum, die Schminkstation. „Entspann dich doch.“ Das ist leichter gesagt als getan, wenn kein Spiegel zur Hand ist und man gerade schwarze und grüne Striche ins Gesicht gemalt bekommt. Plötzlich steht man ohne Vorwarnung auf der Bühne oder eben mitten im Geschehen, im Café Größenwahn. Ein lang gezogener Raum, durch Trennwände verwinkelt, an dessen Ende eine Bar steht.
Atemlos geht es weiter. Ein schönes Mädchen in hautfarbener Leggings fordert mich zu einem Walzer auf. Wir tanzen oder tun so, als ob wir tanzen könnten. Danach die Erkenntnis, dass sie nicht so tut, als wäre sie unten herum nackt, sondern wirklich halbnackt ist. Die Auseinandersetzung mit einer der schillerndsten Figuren, die Stuttgart je hervorgebracht hat, geht weiter. 1906 plante Johannes Baader den Bau eines Welttempels als Heimstätte für den „Internationalen interreligiösen Menschenbund“. Daneben gab er sich gerne als der wiederauferstandene Jesus Christus aus. Wie bescheiden. Die Versuchsanordnungen des Stückes hätten Baader wahrscheinlich gefallen. Zwischendrin gibt es immer wieder eine Zwangsraucherpause. Wow. Hat das schon immer so schlimm geschmeckt? Die ersten verschwinden heimlich, nachdem sie dem Mann mit der Totenmaske am Ausgang das Codewort zugeflüstert haben. Ich bin müde, erschöpft und würde auch gerne gehen, habe aber den Code vergessen.
Also weiter im Experiment. „Trinkt die Milchstraße“, tönt es im Chor. Leider schmeckt die Milchstraße nicht kosmisch, sondern nach einem Likör, der aus leergeschlürften Austern serviert wird. Ich muss weg, vergessenes Passwort hin oder her. Gevatter Tod ist gnädig und lässt mich auch ohne Code passieren. Am Ausgang raus aus dem Kostüm, rein in den Mantel. Endlich der Blick in den Spiegel: Die schwarzen und grünen Streifen im Gesicht sehen aus, als hätte ich bei der Gruppe Kiss hospitiert. Der Blick auf das Handy-Display zeigt: 3.48 Uhr. Draußen zwitschern die Vögel. Am Ostendplatz fällt man grell geschminkt auch nach Aschermittwoch nicht negativ auf. Stuttgart ist doch mehr bohème, als man immer denkt.

Münchner Abendzeitung, 24.01.2015, Mathias Hejny
[...] Empfohlen sei der Unfug nur jenen, die die Wochen bis zu den Faschingstagen ohne billig maskierten Gute-Laune-Zwang gar nicht mehr aushalten können.

SüddeutscheZeitung, 28.01.2015, Sabine Leucht
[...] Hey Leute, ihr habt nicht 150 000 Euro vom Bund bekommen um euch zwei Jahre lang als Speerspitze der subversiven Künstlerbewegung zu fühlen. [...]

Weniger…

Samuel Hof - Regisseur & Bühnenbildner